Ruhrgebiet 2010: Im Spannungsfeld zwischen dem expansiven Einzelhandel und einer geordneten Stadtentwicklung

 

Mit seinen mehr als 5 Mio. Einwohnern und einer Fläche von 4 435 qkm ist das Ruhrgebiet der größte Ballungsraum  Deutschlands und der fünftgrößte in Europa, so ist bei Wikipedia nachzulesen. Die Region an der Ruhr stellt den dicht besiedelten „Zentralraum“ des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen dar. Gemeinsam mit seinem Umland bildet sie die Metropolregion Rhein-Ruhr in der über 10 Millionen Menschen auf rund 7 000 qkm leben. Das hat für die Städte Vor- und Nachteile zugleich..

Für Großprojekte des Einzelhandels wie das weithin bekannte CentrO in Oberhausen (Foto), Europas größtes Einkaufszentrum, oder die zahlreichen großflächigen Möbelhäuser und Baumärkte, die 38% der Handelsfläche des Ruhrgebiet belegen, ist eine solche Bevölkerungs-Dichte in eng beieinander liegenden Städten von Vorteil. Je mehr Menschen auf engem Raum leben, umso besser fürs Geschäft.

CentrO Oberhausen

CentrO Oberhausen

Doch um ein Stadtentwicklungs-Konzept mit attraktiven innerstädtischen Anziehungspunkten rund um den Kirchturm oder den berühmten Marktplatz anzuschieben, hat diese Dichte ihre Schattenseiten. Denn Großprojekte einer Stadt beeinflussen die gesamte Region. Und rufen häufig den Widerstand der Nachbarstädte auf den Plan, wie im Falle des geplanten Shopping-Centers in Recklinghausen, auf dem innerstädtischen Gelände des Löhrhof-Centers, das die Stadtväter dringend revitalisieren möchten, um die Qualität der Innenstadt zu verbessern. Doch § 2,2 Bau Gesetz Buch legt fest, dass beim Bau großflächiger Handelsobjekte mit über die Gemeindegrenzen hinausreichenden Einzugsgebieten – und das passiert im Ruhrgebiet schnell – die von den Auswirkungen betroffenen Gemeinden bei den Planverfahren beteiligt werden müssen.

Im Fall Recklinghausen hatte die Nachbarstadt Gelsenkirchen ein Normenkontrollverfahren angestrengt, da sie für das Zentrum ihres Stadtteils Buer Nachteile befürchtet. Nun ringen alle Beteiligten, Gelsenkirchen, Recklinghausen und der Shopping-Center-Entwickler mfi AG um einen einvernehmlichen außergerichtlichen Vergleich, mit dem alle Beteiligten leben können., wie Peter Schnepper, stellvertr. Hauptgeschäftsführer der IHK Nord Westfalen.

Konstruktive Allianz gegen ruinösen Flächenwettbewerb

Das Beispiel zeigt, vor welchen besonderen Herausforderungen die Städte des Ruhrgebiets stehen – anders als die weit verstreut liegenden Mittelstädte Süddeutschlands mit ihrer hohen Zentralität. Wenn eine Stadt ihre Innenstadt mittels Shopping-Center aufwertet, gerät die Nachbarstadt gleich unter massiven Zugzwang, sich gegen einen möglichen Kaufkraftabfluss zu wehren.

Die Städte Dortmund, Hagen und Bochum im östlichen Ruhrgebiet haben deshalb eine Allianz geschmiedet, um einen „ruinösen Flächenwettbewerb“ einzudämmen. Die Ansiedlung großflächiger Einzelhandelsbetriebe wird unter den Städten abgestimmt. Dieses Erfolgsmodell hat aus Sicht der Industrie- und Handelskammern im Ruhrgebiet auch für die übrigen Städte der Region Vorbildcharakter. Auch wenn ein regionales Einzelhandelskonzept für das gesamte Ruhrgebiet auf Grund der Komplexität der Region als wenig erfolgversprechend gilt. Doch weitere regionale Kooperationen dürfte es noch geben.

Dass sich die IHKs im Ruhrgebiet mit Themen wie verbindliche Stadtentwicklung, Masterpläne und kommunale Kooperationen auseinandersetzen und Empfehlungen für die Stadträte aussprechen müssen, lässt sich aus den Ergebnissen ableiten, die der jüngst vorgelegte „Handelsreport Ruhr 2010“ zutage gefördert hat: Zum einen hat der Einzelhandel insbesondere im polyzentrischen Ruhrgebiet „eine zentrale Leitfunktion für die Innenstadt“, wie Stefan Dietzfelbinger, Hauptgeschäftsführer der Niederrheinischen IHK, feststellt.

Zum andern ist der großflächige Einzelhandel im Ruhrgebiet weiter auf dem Vormarsch und die Einzelhandelsfläche seit 2001 bereits um etwa 1 Mio. qm auf 6,8 Mio. qm gewachsen. Und das, obwohl die Bevölkerung um knapp 200 000 oder 3% von 6,12 Mio. auf 5,93 Mio. Menschen geschrumpft ist. Dies verdeutlicht, dass der Wettbewerbsdruck zwischen den Handelsgeschäften, den einzelnen Standorten, Städten und Stadtteillagen erheblich gestiegen ist.

Untersucht haben die IHKs in ihrem Report 84 Kommunen im Ruhrgebiet sowie im Kreis Kleve und im Märkischen Kreis. Im Fokus standen nur die größeren Einzelhandelsobjekte mit über 650 qm Verkaufsfläche. Nach dieser Flächenausweitung dürfte die Verkaufsfläche pro Kopf mit 1,6 qm in der untersuchten Region über dem Bundesdurchschnitt von knapp 1,5 qm liegen, wie die IHKs heute schätzen. Bei Flächen ab 650 qm liegt die Pro-Kopf-Ausstattung bei 1,14 qm.

Mehr Fläche bei weniger Bevölkerung bedeutet unter dem Strich Verdrängung, da der Einzelhandelsumsatz seit Jahren real nicht wächst. Die Verlierer dieses Prozesses werden laut „Handelsreport Ruhr 2010“ u.a. die Orts- und Stadtteilzentren sein. „Viele solcher zentralen Bereiche haben durch die Flächenentwicklung an anderen Standorten – auf der grünen Wiese, in den Innenstädten oder an Randlagen – erheblich an Attraktivität und Bindungskraft verloren“, stellt Dietzfelbinger fest. Da diese Standorte oft nicht mehr die Voraussetzung für Frequenzbringer und Magneten – z.B. Lebensmittelmärkte – bieten, werden die angesiedelten inhabergeführten Fachgeschäfte unter Druck geraten, fürchten die Kammern.

Für die betroffenen Kommunen, Immobilieneigentümer und Einzelhändler gilt es, neue Verwendungen zu finden. Hier bieten Immobilien- und Standortgemeinschaften (ISG) sinnvolle und verbindliche Lösungsansätze, um Quartiere aufzuwerten. Größere Verkaufsflächen, insbesondere Lebensmittelmärkte und Discounter am Stadtrand oder auf der grünen Wiese, gefährden laut Dietzfelbinger aber auch die örtliche Nahversorgung der Region und werfen die     Frage auf, wie die Städte der Zukunft   denn aussehen werden?

Die Handelslandschaft im Ruhrgebiet werde sich noch stärker auf wenige attraktive Innenstädte und Nebenzentren konzentrieren, prognostiziert Jörg Lehnerdt von den BBE Retail Experts Unternehmensberatung in Köln. Das spricht für mehr Individualität und Unterscheidbarkeit im Auftritt der Städte. Nur so können sich erfolgreiche Städte von den vielen uniformen Filialkonzepten in den Einkaufsstraßen absetzen. Lehnerdt ist überzeugt, dass „die“ Städte bestehen werden, die „glaubwürdige Qualitätsversprechen“ abgeben.

Für die IHKs des Ruhrgebiets bilden deshalb „klare Rahmenbedingungen durch kommunale und regionale Einzelhandelskonzepte“ die Voraussetzung dafür, dass der ruinöse Flächenwettbewerb zwischen Städten und Kommunen künftig eingedämmt werden kann. Vor diesem Hintergrund sollten Entwicklungspotenziale auf solche Zentren konzentriert werden, die tatsächlich zukunftsfähig seien, statt – wie bisher – nach dem Gießkannenprinzip zu verfahren.

Insgesamt dürften heute etwa 390 000 qm Verkaufsfläche (5,4% der Gesamtfläche) aus dem Segment „Einzelhandel mit über 650 qm“ leer stehen, schätzten die IHKs. Ein Teil davon entfällt auf leer stehende Kauf- und Warenhäuser. Die Insolvenzen von Hertie, Wehmeyer und Sinn-Leffers haben Spuren hinterlassen. Großer Druck besteht aus Sicht von Dietzfelbinger noch in den Regionen, in denen es zu viele Discounter gibt, die zu klein sind und zu wenig Parkraum bieten.

Hier wird erwartet, dass die Filial-Betreiber neue, größere und modernere Märkte bauen wollen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Da Discounter mit weniger als 800 qm Verkaufsfläche auskommen, sind die Möglichkeiten der Kommunen, die Ansiedlung solcher Märkte auf Grundlage von § 11,3 Baunutzungsverordnung zu verbieten, begrenzt. Doch der Druck im Einzelhandel, Geld in die Modernisierung der Einzelhandelsstrukturen zu stecken, wird weiter anhalten.

Daraus ergibt sich für die IHKs, dass der „großflächige, zentrenrelevante Einzelhandel konsequent auf die gewachsenen Zentren“ gelenkt werden muss. Und da, wo innerstädtische Einkaufszentren zu Verschiebungen in den Lauflagen geführt haben, sollten im Einzelfall geeignete Nachnutzungsmodelle bzw. neue Profile für „abgehängte Lagen“ gefunden werden. Für mehr Verbindlichkeit sprechen sich die IHKs bei Einzelhandels- und Zentren-Konzepten aus, die den Rahmen für die Stadtentwicklung bilden müssen.

„Über Einzelvorhaben muss entsprechend den Vorgaben des Einzelhandels- und Zentren-Konzeptes – unabhängig von den Einzelinteressen von Betreibern und Grundstückeigentümern – entschieden werden“, heißt es dazu im „Handelsreport Ruhr“.  Mehr Mut zu Individualität, Innovationsfähigkeit und Servicebereitschaft fordern die IHKs aber auch vom (inhabergeführten) Facheinzelhandel, der sich nur mit neuen Betriebsformen und Konzepten im Wettbewerb behaupten kann.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht § 24, a des Landesentwicklungsprogramms (LEPro NRW) gekippt hat, fordern die Kammern zudem eine verbindliche Nachfolgeregelung, da eine Steuerung des großflächigen Einzelhandels auf Landesebene notwendig sei. Das sehe auch das Gros der Kommunen so.