Statisches Baurecht – Dynamischer Einzelhandel: Passt das?

Markus Wotruba, Leiter der Standortforschung
bei der BBE Handelsberatung GmbH

Der Einzelhandel ist eine der dynamischsten Branchen überhaupt. Ständig werden bestehende Konzepte an neue Anforderungen angepasst, egal ob diese auf gesetzliche Vorgaben, Innovationen im Bereich der Logistik oder auf gestiegene Anforderungen der Kunden und ein verändertes Verbraucherverhalten zurück gehen. Ein hoher Wettbewerbsdruck schafft einen Zwang zur ständigen Anpassung.

Besonders hoch ist die Geschwindigkeit in den Branchen des Einzelhandels, die über eine hohe Zahl von Verkaufsstellen (Filialdichte) verfügen. Dies betrifft besonders den Bereich der Nahversorgung, der in Deutschland mehr als 50% aller Umsätze bündelt. Dazu gehören insbesondere Lebensmittel- und Drogerie-Märkte, bei denen der interessierte Bürger ständig Innovationen beobachten kann. Im Lebensmittelhandel wiederum findet sich eine Vielzahl unterschiedlicher Betriebstypen, die sich immer stärker ausdifferenzieren. Folgende Tabelle zeigt die ursprünglichen Betriebsformen und die daraus abgeleiteten neuen Varianten. Das Baurecht kann und soll auf diese Dynamik nicht unmittelbar reagieren. Zwar entwickeln sich Rechtsvorschriften selbstverständlich weiter. Jedoch ergeben sich schon aus Gründen der Rechtssicherheit andere Anforderungen an die Kontinuität als in der Privatwirtschaft.

Baurechtliche Vorschriften haben eine direkt wahrnehmbare Auswirkung auf die Gestaltung der Handelslandschaft. So gibt es – auf Grund der aus der Regelvermutung in § 11 Abs. 3 BauNVO abgeleiteten Grenze zur Großflächigkeit bei 800 qm Verkaufsfläche – deutschlandweit eine Dominanz von Lebensmittelmärkten mit einer ebensolchen Verkaufsfläche. Läge die Grenze zur Großflächigkeit bei 900 qm, wären die Märkte 900 qm groß, bei einer Grenze von 1 000 qm wären sie entsprechend weitere 100 qm größer. Die BauNVO – und nicht wirtschaftliche Gründe oder die Verbraucherpräferenzen – bestimmen also die Größe der Märkte, obwohl in der BauNVO selbst von 800 qm keine Rede ist, sondern lediglich auf die Geschoßfläche von 1 200 qm abgestellt wird.

Die 800 qm Grenze gilt dabei zunächst für alle Einzelhandelsprojekte im Geltungsbereich des § 11 Abs. 3 BauNVO, unabhängig davon, um welche Branche es sich handelt. Zwar lässt sich diese sogenannte Regelvermutung in atypischen (Ausnahme-) Fällen durch eine Einzelfallbetrachtung widerlegen, dies ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Wirksamkeit und Wirkung der Regelung.

Drogeriemärkte, lange mit durchschnittlichen Größen von 200 bis 400 qm (je nach Betreiber), waren vor 5 Jahren weit entfernt davon, in den Bereich der Regelvermutung zu gelangen. Heute liegt die angestrebte Größe für Neueröffnungen je nach Betreiber bei eben jenen 800 qm, die die BauNVO als Obergrenze setzt.

Supermärkte, die lange der rasanten Expansion der Lebensmittel-Discounter zusahen, ohne eine Gegenstrategie parat zu haben, entwickelten in diesen 5 Jahren neue Konzepte zur differenzierteren Zielgruppenansprache. Eine der Folgen davon ist, dass sich die Anforderungen an die Dimensionierung der Verkaufsfläche ebenfalls weiter differenziert haben. Waren im Jahr 2005 bei Supermärkten Verkaufsflächen von 600 bis 1 500 qm und 1 200 qm der angestrebte Standard bei Neueröffnungen,  liegt die Spannbreite heute bei 400 bis 3 000 qm mit einem angestrebten Standard von ca. 1 600 qm.

Die Ausdifferenzierung des Betriebstyps Supermarkt hat also nicht nur größere Supermärkte hervorgebracht, sondern gleichzeitig auf Weiterentwicklungen, die mit weniger Verkaufsfläche auskommen (City-Märkte, Biomärkte).

Der quantitative Schwerpunkt außerhalb der Großstädte liegt allerdings nicht bei City- oder Biomärkten, sondern weiterhin beim klassischen Supermarkt. Hier arbeiten die neuen Konzepte u.a. mit größeren Frischebereichen (Obst, Gemüse), Bedientheken für Frischfisch, niedrigeren Regalen (für eine bessere Erreichbarkeit der Waren und eine bessere Übersicht über den Markt) und breiteren Gängen. Letzteres kommt vor allem auch mobilitätseingeschränkten Kundengruppen zu Gute. Neben den Senioren (Stichwort demographischer Wandel), Rollstuhlfahrern oder Eltern mit Kinderwägen profitieren aber auch alle Kunden davon.

Breitere Gänge und geringere Regalhöhen bedeuten aber weniger Ware auf gleicher Fläche. Gleichzeitig erfordert z. B. der Trend zu Bio-Lebensmitteln, dass das Sortiment entsprechend erweitert wird. Als Antwort auf die Discounter wurden des Weiteren die Eigenmarken der Supermarktbetreiber gestärkt. Somit sind eine Vielzahl von Produkten heute mindestens dreimal im Markt zu finden: als Industriemarke, als Eigenmarke und als Bioprodukt.

Selbst ohne diese konzeptionellen Weiterentwicklungen wäre die für die Warenpräsentation verfügbare Verkaufsfläche heute in einem Lebensmittelmarkt geringer als zum Zeitpunkt der Einführung der 800-qm-Regelung im Jahr 1986. Denn zur Verkaufsfläche zählt im juristischen Sinne nicht nur die Fläche, auf der Waren angeboten werden. Alleine die durch das Einwegpfand erforderlich gewordenen (zusätzlichen) Pfandautomaten und Gerichtsentscheidungen, die z.B. unter dem Vordach außerhalb des Marktes abgestellte Einkaufswagenabstellanlagen zur Verkaufsfläche rechnen, führten dazu, dass die effektive Verkaufsfläche im Laufe der Zeit abgenommen hat.

Fazit: Daher ist dafür zu plädieren, zumindest im Lebensmittelhandel eine Anhebung der 800-qm-Grenze in Angriff zu nehmen. Einigt man sich etwa auf 1 500 qm Verkaufsfläche, so bleibt genügend Raum für die gängigen Konzepte des Lebensmittelhandels, ohne dass alle Konzepte sich an dieser Höchstgrenze orientieren werden.