Versorgung in Klein- und Mittelstädten

Wo die Frequenz für die Nahversorgung reicht, ist auch Potenzial für Nonfood-Sortimente

 

Zusammen mit den inhabergeführten, nicht filialisierten Einzelhandelsunternehmen verlieren auch Klein- und Mittelstädte im Zeitalter des Online-Handels und des demographischen Wandels an Boden. Die Bevölkerungszahl stagniert oder sinkt, weil junge Leute und Familien abwandern, um anderswo einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden. Wie dramatisch die Lage eingeschätzt wird, zeigt die Tatsache, dass Bundeswirtschaftsminister Gabriel die Dialogplattform Einzelhandel ins Leben gerufen hat, um Lösungen für den Wandel und die Nahversorgung im ländlichen Raum zu finden.

Im Kern geht es bei der Dialogplattform Einzelhandel um die Frage, wie Handel, Kommunen, Länder und der Bund auf den tiefgreifenden Strukturwandel reagieren können? In diesem Kontext befassen sich die 5 Workshop-Reihen mit Themen wie „Digitalisierung und technologische Herausforderungen“, „Perspektiven für eine lebendige Stadt“, „Perspektiven für den ländlichen Raum“, „Perspektiven für Arbeit & Berufe“ sowie die „Wettbewerbspolitik“. Dabei arbeitet das Bundeswirtschaftsministerium (BMWI) mit dem Handelsverband Deutschland (HDE) und der Gewerkschaft Verdi zusammen. Das Institut für Handelsforschung in Köln (IFH) hat die Umsetzung der Dialogplattform übernommen und begleitet das Gesamtprojekt analytisch.

Ziel der Plattform ist es, Strategien für lebendige Innenstädte und die Nahversorgung im ländlichen Raum sowie Antworten auf die Digitalisierung zu finden. Aus Sicht des Einzelhandels und der Bevölkerung geht es im wesentlichen um die Frage, wie die Nahversorgung in Städten und Gemeinden im ländlichen Raum gesichert werden kann, angesichts der Tatsache, dass sich die Verkaufsflächen vielerorts ausdünnen.

Rechtliche Grundlage für die Sicherstellung der Nahversorgung im ländlichen Raum sind laut Tine Fuchs, Leiterin des Referats Stadtentwicklung und Planungsrecht beim DIHK, der Grundsatz von der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“, der in Art. 106 Absatz 3 Nr. 2 Grundgesetz geregelt ist, sowie die Leitvorstellung der Raumordnung „von gleichwertigen Lebensverhältnissen in allen Teilräumen der Bundesrepublik“ aus § 1 Absatz 2 Raumordnungsgesetz. Um einheitliche Lebensverhältnisse aufrecht zu erhalten, gelte es demnach auch flächendeckend für ein Nahversorgungsangebot zu sorgen, so die Expertin, wobei es um „gleichwertige Lebensverhältnisse“ und nicht um „Gleichheit“ gehe.

Doch während gemeinhin unter Nahversorgung insbesondere auf dem „platten Land“ die Versorgung mit Lebensmitteln/Drogerie-Artikel, Gastronomie, einer Grundschule, Post/Telekommunikation, öffentlichem Nahverkehr und ärztlichen Dienstleistungen verstanden wird, ergab die Umfrage zur Studie Vitale Innenstädte 2014 u.a. vom IFH, dass die Bürger insbesondere in Kleinstädten mit bis zu 25 000 Einwohnern vor allem Bekleidung und Mode (42%) vermissen, vor Angeboten aus dem Bereich Multimedia/Elektronik/Foto (26%). Nur 19% vermissten Lebensmittel. Denn in Städten dieser Größenordnung ist der rentable Betrieb von Super- oder Verbrauchermärkten kein Problem. Schwierig wird es erst dann, wenn die Einwohnerzahl unter 5 000 liegt. Bekleidung/Mode wurde aber auch in Städten mit 25 000 bis 50 000 Einwohnern von vielen (31%) am meisten vermisst.

Im Bekleidungsbereich und bei Elektrofachmärkten macht sich das seit Jahren währende Wegbrechen des inhabergeführten nicht filialisierten Facheinzelhandels bemerkbar, der laut Joachim Stumpf, Geschäftsführer der BBE Handelsberatung und IPH Handelsimmobilien, seit Jahrzehnten mit jeder Innovationswelle Marktanteile verliert. So auch im Zuge der Digitalisierung des Verkaufsprozesses. Insgesamt kommt die neue IFH-Studie „Stadt, Land, Handel 2020“ in ihrer Modellrechnung zu dem Ergebnis, dass durch den wachsenden Online-Anteil am Einzelhandelsumsatz in den nächsten 5 Jahren bis zu 45 000 Geschäfte vor dem „Aus“ stehen könnten – das wäre mehr als jedes 10. Hinzu kommt der Umsatzrückgang durch das Schrumpfen der Bevölkerung. Diese Entwicklung dürfte viele Mittelständler in Kleinstädten treffen.

Die zahlreichen Filialbetriebe, die in den großen Städten die Lücken im Nonfood-Bereich schließen, die der Facheinzelhandel hinterlassen hat, gehen meist nicht in Städte mit weniger als 100 000 Einwohnern. Zu den wenigen Ausnahmen gehören die Modeketten Adler und Charles Vögele sowie Ernsting’s Family, Takko und Kik. Für sie dürfte es noch Potenzial geben. Denn dort, wo die Frequenz für die traditionelle Nahversorgung ausreicht, so Stumpf, „da ist immer auch Potenzial für Nonfood-Sortimente, die aber möglicherweise nicht mehr durch kleine inhabergeführte Betriebe abgedeckt werden“.

In Kleinstädten ist der Immobilienbestand oft marode

Ein Hemmnis ist nach den Worten von Manuel Jahn, Head of Real Estate Consulting bei GfK Geomarketing, aber nicht selten das Fehlen der geeigneten Standort-Infrastruktur und der passenden, modernen Einzelhandelsimmobilien: „In vielen deutschen Klein- und Mittelstädten sind seit Jahren erschreckende Leerstände zu beobachten“, so der Experte: Die Schuld daran werde gerne der Expansionspolitik der internationalen Filialisten und den gedankenlosen Verbrauchern gegeben, die den Metropolen den Vorzug gäben. Tatsächlich suchten finanzstarke Filialisten aber auch abseits des Mainstreams händeringend nach Verkaufsflächen und würden oft angesichts der maroden Bestandssituation, von Verkehrsproblemen oder einem ungeeigneten Flächenangebote nicht fündig.

Negativspirale selbst in Städte mit guter Datenbasis

Und auch wenn ein Händler oder ein Projektentwickler an einem solchen Standort in eine Handelsimmobilie investieren wolle, so Jahn weiter, dann seien es nicht selten die Bank oder der Investor, „die dem Projekt aufgrund fehlender Vor-Ort-Kenntnisse und Benchmarks vorsichtshalber ganz generell eine Absage erteilen“. Die Folge des maroden Immobilienbestands ist eine Negativspirale, vor der auch Städte mit guten soziodemographischen Daten und ausreichender Kaufkraft nicht gefeit sind. Um den Teufelskreis zu durchbrechen, empfiehlt der Experte, dass die Interessensgruppen – etwa Stadt, Händler, Projektentwickler und Finanzierer – gemeinsam ein Konzept erarbeiten. Die Einbindung unabhängiger Standort- und Immobilienexperten als Moderatoren kann dabei sinnvoll sein.

Dass die Bürger auch im Internet-Zeitalter immer noch großes Interesse an ihren Innenstädten haben, zeigte die Studie Vitale Innenstädte 2014, wonach im Bundesdurchschnitt 59% der Befragten zum Einkaufen in die Innenstadt gehen. In den Kleinstädten bis 25 000 Einwohner liegt der Wert bei 58% – 21% kaufen im Internet. In den attraktiven Metropolen mit über 500 000 Einwohnern liegt der Wert bei 61%.

Darauf lässt sich aufbauen: „Attraktive Innenstädte punkten mit Gestaltung, Ambiente, Erlebnischarakter und Angebots- bzw. Sortimentsvielfalt“, heißt es in der Studie Stadt, Land, Handel 2020: „Während in Sachen Erlebnis und Ambiente vor allem positive Akzente gesetzt werden können, führen Defizite im Warenangebot aus Konsumentensicht zu drastischen Einbußen bei der Attraktivität. Vor allem kleinere Städte haben hier vielfach Handlungsbedarf.“ Noch könne der Wandel aktiv gestaltet werden, mahnt Boris Hedde, Geschäftsführer des IFH Köln, aber es sei ein Umdenken nötig.

Dabei gilt es für den mittelständischen Facheinzelhandel gleichzeitig, im aktuellen Strukturwandel den Anschluss an die Digitalisierung des Verkaufsprozesses zu halten. Wie jedoch der 1. Workshop „Handel im digitalen Zeitalter und seine Anforderungen“ im Rahmen der BMWI-Dialogplattform Einzelhandel ergab, sind laut IFH Köln bereits die Rahmenbedingungen für die Digitalisierung stark verbesserungswürdig. In punkto Internetgeschwindigkeit sei Deutschland im internationalen Vergleich weit abgeschlagen. Und auch bei den Händlern selbst sei der Digitalisierungsgrad und das Bewusstsein für dessen Bedeutung eher schwach ausgeprägt.

Insofern sind der bundesweite Ausbau des Breitband-Internets und des schnellstmöglichen Mobilfunks einerseits sowie die Aufklärung und Unterstützung des Mittelstands und die Erarbeitung von Lösungswegen für die Digitalisierung andererseits, vordringliche Aufgaben der heutigen Stadtentwicklung.

Die Teilnehmer des 1. Workshops „Perspektiven für eine lebendige Stadt“ haben bisher 4 Handlungsansätze erarbeitet, um die Attraktivität des innerstädtischen Einzelhandels zu steigern: Dazu gehört die Planung eines bedarfsgerechten Branchen- und Geschäftsmix aus nationalen, regionalen und internationalen Filialisten, Vertikalen und vor allem die Ansiedlung von wichtigen Frequenzbringern. Die Ansätze sollten demnach in einem integrierten (Innenstadt)Konzept unter Einbeziehung der relevanten Stakeholder-Gruppen (Interessenvertreter) festgelegt werden.

Ein zentraler Erfolgsfaktor ist aus Sicht von Workshop-Teilnehmern, dass die Koordination der Stakeholder einer Stadt verbessert wird. Genauso wichtig ist die Profilierung des Zentrums durch die Gestaltung des öffentlichen Raums, Shopping-Events, Gastronomie und Freizeiteinrichtungen, sodass die verschiedenen Lebensbereiche verknüpft werden. Und schließlich muss die Offline- und Online-Erreichbarkeit gegeben sein, damit die Kunden nicht auf andere Einzelhandelsstandorte ausweichen.