„Guttenberg-Diss“ zum Schmunzeln – warum der moralische Zeigefinger fehlt

Vor fast 30 Jahren hatte ich als wissenschaftlicher Assistent eines Prominentenlehrstuhls in Köln Zugriff auf Hunderte Dissertationen der damaligen Wirtschaftsprominenz, die bei mir im Raum lagerten. Da die damals bekannten Honoratioren-Dissertationen in der Regel den Umfang eines Reclam-Heftes hatten und oftmals unter Bezug auf 20 oder 30 Literaturquellen das eigene Gedankengut 25-jähriger aus oft guter Familie spiegelten, nahm die ganze Sammlung sowohl quantitativ als auch qualitativ nur wenig Regalplatz in Anspruch. Es erübrigt sich die Feststellung, dass auch an der Universität zu Köln viele prominente Assistentenstellen Kandidaten mit einer eins vor dem Komma oder eben aus „guter Familie“ vorbehalten waren. Es war übrigens nie ein Geheimnis, dass auch in den frühen 80ern, in denen Dissertationen 250 bis 500 Seiten und Hunderte von Literaturquellen umfassten, bei denen das Papier- und Fotokopiermanagement alleine wohl 90% der Copy & Paste-Generation überfordern würde, ein adäquater finanzieller Background, Auslandserfahrung oder ein Vater in führender Position der Wirtschaft von besonderem Vorteil waren. Wie lief das ab?

Wem es z. B. gelang, im Rahmen eines USA-Aufenthaltes in einer Bibliothek ein oder zwei neue, unbekannte wissenschaftliche Arbeiten zu finden, hatte eine gute Chance mit dem im Rahmen des Übersetzungsprozesses angepassten Text und einigen landespezifischen Erweiterungen einen honorigen Doktortitel zu erwerben. Legendär war damals die Fähigkeit des späteren Sachverständigenrats-Vorsitzenden Herbert Hax, ins Bücherregal zu greifen und die Quelle ausfindig zu machen. Belesenheit und Genie des Sohnes von Karl Hax sind in bleibender Erinnerung, aber auch die Ausnahme.

Darüber hinaus gab es auch den typischen Fall der Promotion als Belohnung für treue Assistentendienste, bei der im Rigorosum nach den geleisteten Diensten gefragt wurde, ohne sich im Detail mit dem wissenschaftlichen Schwergewicht des vorliegenden, gebundenen Papierhaufens auseinanderzusetzen. Schließlich war die wirkliche wissenschaftliche Arbeit ja bereits für den Professor zur Erweiterung seiner Veröffentlichungsliste geleistet worden.

Sofern der Vater des Kandidaten über eine Vorstandsposition verfügte, bestand natürlich neben einer möglichen Zusammenarbeit des Konzerns mit der Universität auch eine segensreiche Unterstützung des Kandidaten durch ein Tutorial der wissenschaftlichen Mitarbeiter des väterlichen Konzerns. Zudem ermöglicht die Auswertung interner wissenschaftlicher Gutachten durchaus eine komfortable und wissenschaftlich sogar anspruchsvolle Dissertation. Oft führte sogar der Übertragungsvorgang in die eigene Schreibmaschine, sofern dies nicht durch das Sekretariat erledigt wurde, zu wissenschaftlicher Erweiterung und neuer Erkenntnis.

In der innovativen Phase der Kommunikationstechnologien konnten spätere Anpassungen des Umfangs auf Professorenwunsch hin eine Zeit lang noch durch Wechsel des Typenrades erreicht werden, ohne dass die Arbeit an wissenschaftlichem Gewicht verlor, wie der Professor stolz nach Beseitigung seiner Kritik an der Länge der Arbeit feststellte.

Neben guter Familie mit entsprechenden Verbindungen oder Auslandserfahrungen gab es sicherlich noch durch die flexible Ausnutzung geschlechtsspezifischer Besonderheiten die Möglichkeit, in Einzelfällen den begehrten Doktortitel zu erreichen. So erinnere ich mich noch an die wissenschaftliche Auswertung von elf Fragebögen, die von Finanzinstituten ausgefüllt worden waren, deren finale Wertung als Dissertation mir nach kurzem Vorgutachten aus der Hand genommen wurde, da ich die tatsächliche „summa cum laude“-Leistung der jungen Dame (leider) nie erfassen konnte.

Daneben gab es aber noch die vielen Tausend armen Schweine, die in der Endphase ihrer Dissertation Tag und Nacht arbeiteten, um entweder wirklich eine wissenschaftliche Leistung zu erbringen oder sich zumindest den Titel zu verdienen. Meine eigene Erfahrung lehrte mich mit Blick auf die neuen Kollegen und auf mindestens fünfjährige wissenschaftliche Assistentenerwartung und anschließender Promotion auf Arbeitslosenunterstützung, dass es perspektivisch wenig sinnvoll ist, sich einen viel schreibenden, prominenten Doktorvater zu wählen, sondern dass es sinnvoller ist, einen möglichst unbedeutenden Professor ohne jeden wissenschaftlichen Ehrgeiz zu wählen. So schied ich denn nach zwei „wissenschaftlichen“ Jahren, die ich neben Lifestyle-Komponenten der Erlangung weiterer Examenstitel und dem Austesten eigener wissenschaftlicher adhoc-Schlagfertigkeit in Prüfungen widmete, ohne davon auch nur eine Minute für eine etwaige Promotion verschwendet zu haben, aus der akademischen Welt aus.

Als weitere Erfahrung aus der Assistententätigkeit an einem prominenten Lehrstuhl konnte ich die völlige Überraschung bei der Korrektur von Examensarbeiten mitnehmen, wenn die eloquenten Träger bekannter Namen, die auf jedem Hauptseminar mit prominenten Gästen mit den richtigen Fragen aufwarteten, auf dem Papier ein fürchterliches intellektuelles Kauderwelsch von sich gaben. Weitere Erfahrung war, dass allein schon aufgrund eingeschränkten Literaturzuganges damals nebenberufliche wissenschaftliche Arbeiten oftmals die Grenze der Peinlichkeit antesteten.

Meine persönlichen Erfahrungen, die auf aktivem Wissenschaftsverzicht beruhten, waren im Umgang mit manchen Doktoren durchaus von einer späten Erkenntnis des „vielleicht hätte ich besser …“ geprägt. Andererseits hielt mich der nie untergegangen Glaube an die Notwendigkeit einer korrekten Wissenschaft immer davon ab, den persönlichen Weg einer leichten Dissertation zu wählen.

Insofern fehlt mir mit Blick auf den ehemaligen „Dr.“ zu Guttenberg auf der einen Seite jegliche moralische Entrüstung, aber andererseits wissen wir noch aus Schulzeit, dass jemand, der beim Abschreiben erwischt wird, sich nun einmal zur Strafe eine Zeitlang in die Ecke stellen muss. Um diese Erfahrung reicher, ist man sicherlich ein nützlicheres Mitglied der Gesellschaft als als Sonnyboy ohne Narben. Darüber hinaus ist zu lernen, dass im Internet-Zeitalter, in dem Millionen wissenschaftliche Arbeiten im Netz stehen, die Gefahr, beim Gedankentransfer erwischt zu werden, recht groß ist – spätestens dann, wenn man so prominent ist, dass mögliche Feinde ein eigenes Interesse an einer ausführlichen Recherche entwickeln.

Vielleicht kann einem zu Guttenberg auch durchaus leidtun. Denn sofern die Vorwürfe sich nach Analyse der Universität als korrekt herausstellen sollten, hieße das entweder, dass zu Guttenberg über eine behindernde Lese-/Schreibschwäche verfügt, die den Zusammenhang zwischen Quelle und Dissertation verschleierte, oder aber dass er von etwaigen Hilfskräften gelinkt wurde, die dem nach Examensnoten wohl eher durchschnittlichen Juristen vielleicht unterstellten, nicht zu merken, dass sogar die Einleitung eines Quellenverweises bedurfte. Das aber wäre nie zuzugeben. Vielleicht hat auch ein Informations-„Link“ überhaupt den Stein ins Rollen gebracht. Dieses Dilemma, sich selber entweder als unbedarft darstellen zu müssen, oder alternativ eine Unkorrektheit zugeben zu müssen, hätte Stoff für eine griechische Tragödie sein können. Tröstlich ist im aktuellen Fall aber sicherlich, dass nach einem Comeback in einigen Jahren den dann wieder prominenten Politiker sicherlich eine ehrliche Doktorwürde erreichen wird. Ob er die dann aber annehmen wird, wenn er immer damit rechnen muss, dass bei der feierlichen Verleihung entweder der Verleihende oder die Gäste in der Aula in Lachanfälle ausbrechen, wird er eines Tages selber entscheiden müssen.