Das neue Gesicht der Reeperbahn

 

Jürgen Hoffmann

An den Hochhäusern aus den 1960er Jahren bröckelt der Putz. Rost nagt an den Balkonen. Aus den Festern hängen Bettlaken mit Parolen für Sanierungsmaßnahmen. Ausziehen wollen die Bewohner der 110 Wohnungen in beiden Gebäuden an der berühmten Hamburger Reeperbahn nicht. Im Gegenteil, sie wehren sich gegen den geplanten Abriss. In ihrer
Initiative „Esso-Häuser“ engagieren sich auch andere Anwohner und Geschäftstreibende im Quartier gegen die zunehmende Gentrifizierung des Kiez. Wo früher
Tante-Emma-Läden existierten, Obst- und Gemüsegeschäfte, Schneidereien und Fleischereien, sind in den vergangenen Jahren immer mehr Büropaläste aus Stahl und Glas, teure Boutiquen und noble Restaurants entstanden. Und diese Entwicklung geht weiter.

Am einen Ende der Reeperbahn wachsen gerade die „tanzenden Türme“ von Star-Architekt Hadi Teherany in den Himmel, am anderen Ende streiten Investoren und Anwohner um die Zukunft des Bernhard-Nocht-Quartiers. Hier plant die Projektfirma Köhler + von Bargen seit Jahren den Bau von Eigentumswohnungen, sieht sich aber den Protesten vieler alteingesessener St. Paulianer gegenüber und war zuletzt sogar bereit, das Grundstück einer Stadtteilinitiative für einen hohen einstelligen Millionenbetrag zu verkaufen. Den bekam man allerdings nicht zusammen.

Und nun die „Esso-Häuser“ in der Mitte der Reeperbahn: Die heruntergekommenen Plattenbauten, in die der Eigentümer, die Bayerische Hausbau, seit Jahren kaum noch etwas investiert hat, gelten inzwischen als Symbol des „alten“ St. Pauli. Dieser Komplex, der seinen Namen von der zu ihm gehörenden Esso-Tankstelle hat, einer bei Nachtschwärmern berühmten Anlaufstelle, weil sie rund um die Uhr geöffnet hat, wird von manchem Nostalgiker als „Kunstwerk“ gefeiert. Selbst die oppositionelle Hamburger CDU kämpf für den Erhalt der Häuser und der Tankstelle. „Der Treffpunkt ist Kult, muss erhalten bleiben“, fordert Fraktionschef Dietrich Wersich. Für die meisten Hamburger ist das Ensemble jedoch nur eine Bausünde aus den 60ern. Die Bayerische Hausbau favorisiert „aus ökologischen und ökonomischen Gründen“ einen Neubau und verspricht, das künftige Objekt werde sich „in die gewachsene Stadtteilkultur auf St. Pauli einfügen“. Man strebe eine Mischung aus frei finanziertem und öffentlich gefördertem Wohnungsbau an. Die Initiative „Esso-Häuser“ misstraut den Bayern und befürchtet, dass durch einen Abriss ein Großteil der Mieter für immer aus dem Quartier vertrieben wird. Das sei „Vertreibung auf Raten“.

Unabhängig von der Zukunft der „Esso-Häuser“: Die Mieten auf St. Pauli steigen seit Jahren, die Bewohnerstruktur verändert sich. In die neuen Appartements an der „sündigen Meile“ ziehen zunehmend mehr Gutbetuchte, die die Attraktivität eines gewachsenen Stadtteils genießen. Viele teure Büros, die vor allem auf dem Gelände der ehemaligen „Astra“-Brauerei entstanden sind, stehen dagegen noch leer. In Hamburg gibt es zu viele Büros, jedes fünfte wird derzeit nicht genutzt. Projektentwickler DWI, der gerade die Alte Oberpostdirektion an der Dammtorstraße für 140 Mio. Euro zu einem Shopping-Center revitalisiert, hat seine Objekte auf St. Pauli verkauft, ist hier selbst nur noch Mieter.

Wenn zwei Megatrends anhalten, die Renaissance der Innenstadt als Wohnort und die Wiederentdeckung der traditionellen Achse der Stadt zur Elbe, wird Hamburgs berühmtester Stadtteil bald noch schicker werden. Allerdings sagen die Stadtentwickler, gerade die unkonventionellen Eigenarten des Quartiers müssten erhalten, die Reeperbahn müsse
eine „geile Meile“ bleiben. Denn letztlich sei es die Mischung aus Rotlicht und Kultur, die Menschen aus allen Länden anzieht.