Das Modell China

China polarisiert zunehmend: Umweltsünden, Patentklau,  und ungesundes Dumping bei der Solarzellenherstellung führt derzeit zu einer angespannten Atmosphäre mit Handelsriesen China. Andererseits wäre ein Weltwirtschaftswachstum ohne den roten Drachen als Zugtier durch die anhaltende Schwäche in Europa, aber auch den Unsicherheiten in den USA in weite Ferne gerückt. Ein Blick hinter die Kulissen eines sehr widersprüchlichen Landes, das sich mehr denn je auf der Suche nach dem eigenen Weg befindet.

Hell, grell, schnell: So ist Hongkong. Eine pulsierende Metropole, weit ausufernd bis in das Perlflussdelta mit seinen insgesamt 30 Millionen Menschen. Es ist die am dichtest besiedelte Gegend der Erde.  Schicht um Schicht haben die Menschen das Land dem Meer abgerungen. Auch der neue Flughafen steht auf aufgeschüttetem Terrain. Und dennoch ist es überall schon wieder zu eng. Es fehlt an Platz, und so wird vor allem in die Höhe gebaut. Der explodierende Bevölkerungszuwachs hat in den vergangenen Jahren einen enormen Bauboom ausgelöst.  Der Umweltschutz musste dabei oft dem Primat des Turbokapitalismus weichen. Schnell wuchsen, wie in allen Megacities, auch in Hongkong die Trabantenstädte im Speckgürtel.  Das sind kleine Welten für sich, wo  gehandelt, gefeilscht und 24 Stunden das Leben keine Sekunde still steht.  Und doch stehen immer wieder kleine Hausaltäre zwischen den hunderten, wie beleuchtete Zahnstocher in den Himmel ragenden, immer gleich aussehenden Hochhäuser, die vor allem Honkongs chinesischen Teil prägen. Sie saugen jedem Abend abertausende Chinesen wie ein riesiger Moloch ein und spucken sie am nächsten Morgen zu früher Stunde wieder aus. Nur mit einem ausgeklügelten U-Bahnsystem, und Zügen, die im Minutentakt verkehren, sind diese Menschenmassen überhaupt zu transportieren. Disziplin ist dabei alles. „Please hold the handrail“, verkünden Plakate und Lautsprecher überall. Und alle halten sich auf das Genaueste daran. Jeder steht sorgfältig links an der Rolltreppe und hält sich vorschriftsmäßig fest – keiner geht oder läuft gar. Aus der Reihe tanzen ist in Hongkong und in China ebenso wenig angesagt, wie das Essen, Trinken oder  laut telefonieren in öffentlichen Räumen. Dezent wird in die omnipräsenten Smartphones hinter vorgehaltener Hand gewispert. Geräuschlos getwittert und  gesimst wird dagegen pausenlos. In Hongkong ist das möglich – hier haben die Chinesen auch Zugriff auf Facebook und Twitter. In Mainland China dagegen wacht die Kommunistische Partei (KP) genau über den Inhalt der Social Media. Sie sind der Regierung ein großer Dorn im Auge, fürchten sie doch zunehmend Unruhen – zumal die Chinesen findig sind und mit allerlei Tricks immer wieder die staatliche Zensur umgehen.

Zurück in die Sonderverwaltungszone Hongkong:  Während sich in dem chinesischen Teil der Stadt Garküchen munter mit vollgestopften Elektroshops, Pornoläden und Heilkräuterhändler abwechseln, gleicht die Skyline des CBD Districts vielen amerikanischen Metropolen aufs Haar. Glitzernde Hightech-Wolkenkratzer reihen sich Seite an Seite entlang des Hafens und der innerstädtischen Ringstraße. Causeway Bay, Admiralty und Central sind nobel, die Immobilienpreise horrend. Häuser wie Gucci, Armani und Yves Saint Laurent haben gleich mehrere Filialen in der südchinesischen Millionenstadt, die dort  so wenig Ähnlichkeit mit den chinesischen Städten des Festlandes haben, wie alte Fischerboote mit Luxusjachten.

Nicht nur in Hongkong, sondern in ganz China ist der Immobilienmarkt einer der wichtigsten Treiber der Wirtschaft. Land- und Immobilienbesitz hat in China seit jeher eine lange Tradition. Wer reich ist, zeigt das mit einem großen Haus, mit einem dicken Auto und viel, viel echtem Schmuck. Understatement ist keine Charaktereigenschaft Chinesen, schon gar nicht im turbo-kapitalistischen Hongkong. Dort liebt man es besonders seinen Reichtum aller Welt zu zeigen. Und so sieht im CBD Bereich und den angesagten Resorts am südchinesischen Meer wohl auch mehr Luxusautos als irgendwo sonst auf der Welt.

Mit dem erstarkenden Mittelstand begann auch in China ein Bauboom enormen Ausmaßes. Er  überrollte das Land. Doch dann knickten plötzlich die Preise ein und alle befürchteten das Platzen der Blase. Peking handelte rasch.  Nun scheint sich auf dem Markt eine leichte Erholung anzudeuten. Das wäre gut, denn der Immobilienmarkt ist eine tragende Säule. Laut internationalen Währungsfonds IWF trägt er rund zwölf Prozent zur Wirtschaftsleistung Chinas bei.

Neben Peking und Shanghai gehörten Hongkong und das benachbarte Industriestadt Shenshen, wo viele Markenartikel produziert werden, zu den vier Top-Städten des  chinesischen Immobilienmarktes.  Sie gelten als die liquidesten und – relativ gesehen – transparentesten Märkte des Landes. Doch die Transparenz in Chinas Märkten ist noch zu gering, administrative Prozesse sind oft  noch zu schwerfällig und die Korruption zu schwer zu unterbinden. Die Regierung sieht nicht tatenlos zu, sondern tut einiges. Dennoch empfinden viele die Schritte als oft zu zögerlich.

Die Preise für Immobilien in den sehr guten Lagen inzwischen sehr hoch. Grade A Immobilien sind nur noch selten zu finden, weil immer mehr Unternehmen in den Top 4 Standorten ihre Niederlassungen aufmachen. Während Shanghai sehr international ist, erklärt Marcos Chan, Head of Research, Greater Pearl River Delta, Jones Lang LaSalle, gehen nationale Firmen mit ihren Hauptsitzen lieber nach Peking.  In Pekings Shopping-District Zhongguancan stiegen die Preise 2011 um 39,5 Prozent, in der Finance Street um 44,4 Prozent und im CBD Bereich um 52,3 Prozent, so die Erhebungen von CBRE. Etwas gemäßigter war Shanghai mit 21,7 Prozent Anstieg in Pudong und 6,7 Prozent in Puxi. 2012 lässt sich ruhiger an. In Peking stiegen die Mieten um rund acht Prozent, im CBD Bereich sogar nur um 2,2 Prozent, in Shanghai  blieben sie auf Vorjahresniveau und in Hongkong sanken sie sogar um 3,2 Prozent. Der Global Office Index von Jones Lang LaSalle weist allerdings für Peking ein Spitzenmiet-Plus von 41 Prozent im Jahresvergleich aus, während Europa stagniert.
Vor allem Computerfirmen sind bereit, tief in die Tasche zu greifen, um ihre Firmenadresse an angesagten Standorten zu haben. Reputation und Image sind in China extrem wichtig – dazu gehören auch repräsentative Geschäftsräume.  Kleinere Firmen, die expandieren und mehr Platz benötigen, ziehen inzwischen – kostenbedingt – auch in B-Lagen.

Doch China hat mehr zu bieten als die Top-Vier. Als besonders interessant stufte daher Jones Lang Lasalle 50 Millionenstädte ein, die bis 2020 zwölf Prozent des gesamten globalen Wirtschaftswachstums Chinas auf sich vereinen werden, so  die Immobilienexperten.  Die Namen sagen Europäern meist wenig, dennoch sind sie mit großem Potenzial  versehen.  China hat  derzeit 120 Millionenstädte. Die größte davon ist mit 32 Millionen Einwohnern Chongquin. All diese Städte haben wenig westlich angehauchten Metropolen wie Shanghai zu tun, sondern sind rein chinesisch geprägt – von der Mentalität und der Bauweise.

Auch Hongkong und Macao sind anders. Als Peking die Herrschaft für die zwei Städte von den Engländern und Portugiesen  übernahm, wurde klar, dass die Kolonialmächte Spuren hinterlassen haben.  Diese zeigen sich nicht nur in einem freiheitlicheren Denken, sondern auch in der Sprache, wird dort zumindest noch recht vernünftig Englisch gesprochen. Auf dem Festland dagegen sind Reisende, die nicht des Chinesischen mächtig sind, selbst in den Millionenstädten meist auf Pantomime und Zeichenstift angewiesen. Oder  auf die kleinen Kärtchen, auf die die Portiers den Taxifahrern die Zieladresse auf Chinesisch aufmalen. Und selbst mit Chinesisch-Kenntnissen ist es oft nicht einfach, verstehen doch oft Peking-Chinesen, die das klassische Mandarin sprechen, ihre Landleute im Süden nicht, wenn sie auf Kantonesisch antworten und umgekehrt.

Das Sprachdefizit aber führt auch zu vielen amüsanten Begegnungen, denn die meisten Chinesen – vor allem in wenig touristischen Gegenden – freuen sich  sehr  blonde Europäer zu sehen, knipsen sie ohne Unterlass und sind sehr hilfsbereit. Geholfen werden muss ohnehin immer, ansonsten würden sie ihr Gesicht verlieren. Und so kann es schon einmal vorkommen, dass man in einer ganz anderen Ecke der Stadt landet als dort, wohin man eigentlich hin wollte. Ein guter Tipp: immer mindestens zwei oder besser noch drei Menschen nach dem Weg  fragen.

Das muss man auch, um in die Sonderverwaltungszone Macao zu kommen, dem  Las Vegas Asiens. Mit dem Helikopter kostet es vom Hafen in Hongkong aus schlappe 70 US-Dollar – oneway versteht sich. Günstiger ist es mit den alle 15 Minuten abfahrenden Schnellbooten. Sie sind immer ausgebucht, denn Macao ist die einzige Stadt in China, in der das Glücksspiel erlaubt ist – und damit ein riesiger Markt nicht nur für die Chinesen. Die Pläne zur Expansion sind daher noch riesiger, denn Asiaten lieben das Glücksspiel. Und so gehen Experten davon aus, dass die Casinos in Asien einen Umsatz in Höhe von 80 Milliarden Dollar bis zum Jahre 2015 erwirtschaften werden, das entspräche 43,4 Prozent des Gesamtmarktes für Glücksspiel. Ein Gros davon dürfte aus Macao kommen. Inzwischen gibt es dort bereits fünfmal so viele Casinos wie in Las Vegas. Die portugiesische Kolonie profitiert dabei vor allem von den US-Konzernen, wie Sands und MGM die Milliardenbeträge in neue Hotelbauten investieren. Luxuriösen Hoteltempel auf dem künstlich aufgeschütteten Inselteil Cotai Strip haben meist über 2.000 Zimmer und verheißungsvolle Namen wie „The Venitian“ und „Galaxy-Resort“ . Sie locken täglich  tausende Besucher an. Doch mit dieser Entwicklung sinkt nicht nur die Zahl der Arbeitslosen, es steigen auch die  Zahl en der Gewalttaten und der Geldwäsche. Erst kürzlich verhaftete die Polizei 150 Personen auf einen Schlag. Mit Korruption und Verbrechen versucht man in China kurzen Prozess zu machen, meist fackelt die Zentralregierung nicht lange, doch das Übel an der Wurzel auszurotten gelingt nicht wirklich, reichen die Verbindungen doch oft weit nach oben.

Derzeit hat Peking aber noch wichtigeres zu tun. Die Wirtschaft war ist rückläufig – wenn auch auf sehr hohem Niveau. Und so versucht Peking die derzeitige Delle im Wirtschaftswachstum mit allen Mitteln auszumerzen, um das Land wieder auf Wachstum zu polen. Das braucht das bevölkerungsreiche Land auch dringend, hängen davon auch die Arbeitsplätze ab.   Mit einem Ziel von 7,5 Prozent für  2012 gehört die Volksrepublik aber nach wie vor zu den wachstumsstärksten Ländern weltweit. Diesmal setzt die Regierung auch auf das Inland. Damit der Konsum dort schnell wieder anspringt, senkte Peking die Zinsen – zweimal kurz hintereinander.   In ihrem 12. Fünfjahresplan wird  nicht nur der Umweltschutz erstmals erwähnt, sondern auch die Hinwendung von der Produktions- zur Dienstleistungsgesellschaft. Der tertiäre Sektor soll am chinesischen BIP bis 2015 auf 47 Prozent ansteigen – höhere Löhne inklusive, die wiederum in den Konsum fließen werden. Chinas Mittelschicht hat großen Nachholbedarf in vielerlei Hinsicht.