Werner Otto – Vom Schriftsteller zum Universalversender

Werner Otto

Werner Otto

Sie waren die Protagonisten des Versandhandels: Quelle-Gründer Gustav Schickedanz und Josef Neckermann „machten es möglich“, dass Millionen preisgünstig und frei Haus mit allem versorgt wurden, was sie brauchten. Als dritter im Bunde kam Werner Otto erst nach dem Krieg dazu. Weniger spektakulär aber unter professioneller Führung entwickelte sich der Otto Versand zum größten Versender der Welt, während Neckermann und Quelle heute ums Überleben kämpfen. Firmengründer Werner Otto wird am 13. August 100 Jahre alt.

Dabei gehörte die Gründung eines Universalversenders und später eines Immobilienimperiums (ECE) zunächst gar nicht zu den hochfliegenden Plänen des gebürtigen Brandenburgers aus Seelow: Werner Otto (Foto) wollte Schriftsteller werden – einer der ganz Großen. Seine Vorbilder waren Balzac und Flaubert. Doch als die Geschäfte seines Vaters, einem Lebensmittelhändler, immer schlechter liefen und er Insolvenz anmeldete, entschloss sich der damals 17-Jährige, das Gymnasium zu verlassen und eine kaufmännische Lehre zu machen. Die Machtergreifung der Nazis und die zunehmende politische Radikalisierung erlebt er als Zigarrenhändler in der Prenzlauer Straße in Berlin. Politisch fühlt Werner Otto sich dem linken Nationalismus Strassers verbunden. Er engagiert sich im Untergrund gegen das Hitler-Regime und wird 1934 beim Schmuggeln von Anti-Hitler-Flugblättern an der deutsch-tschechischen Grenze festgenommen und zu 2 Jahren Haft in Plötzensee verurteilt.

Danach war sein Traum von der Schriftsteller-Karriere endgültig zerplatzt. 1939 verlässt er mit seiner ersten Frau Eva Berlin, da jeder überwacht wurde, der nur ansatzweise regimekritisch war und zieht ins westpreußische Kulm, wo er ein Schuhgeschäft eröffnet. Hier werden 1941 seine Tochter Ingvild und 2 Jahre später sein Sohn Michael geboren. 1943 wird er jedoch entdeckt, zum Militär eingezogen und als Nachrichtenmann u.a. an die Ostfront geschickt. Frau Eva führt den Laden allein weiter, bis sie1945 mit ihren Kindern nach Westen flüchten muss. In Bad Segeberg findet Werner Otto seine Familie nach dem Krieg wieder. Später ziehen die Ottos nach Hamburg.

Hier beginnt er von vorne, da die „schöpferischen Gestaltungsmöglichkeiten“ eines selbstständigen Unternehmers den verhinderten Schriftsteller inzwischen in ihren Bann gezogen haben. Zunächst versuchte er sich in der britischen Zone mit einer Schuhfabrik, da Schuhe Mangelware waren. „Alles, was ich brauche sind neue Aufgaben, die ich anpacken kann“, charakterisiert sich Otto selbst. Doch der Versuch schlägt fehl, da es in Norddeutschland keine Fachkräfte für die Schuhproduktion gab und nachdem die Grenzen zu den übrigen deutschen Besatzungszonen gefallen waren, machte ihm die Konkurrenz gut gefertigter Schuhe aus Süddeutschland zu schaffen. „Deshalb habe ich die Fabrik geschlossen“, erinnert sich Otto. Geblieben waren ihm aber noch 6 000 DM und die Fabrikhallen: „Heute hat niemand eine Vorstellung davon, wie kostbar jeder Quadratmeter Arbeitsraum in einer ausgebrannten Großstadt war.“

Die Idee, am 17. August 1949 den „Werner Otto Versandhandel“ zu gründen, kommt ihm, als er erstmals einen Versandkatalog für Schuhe sieht und sich entschließt, einen Schuhversand aufzubauen – zunächst mit 3 Mitarbeitern. Damit legte er den Grundstein für die heute weltweit agierende Otto Group mit 10,1 Mrd. Euro Umsatz.

Entscheidend ist der Mut, Fehler wieder zu korrigieren

Der erste Otto-Katalog erschien in 300 handgebundenen Exemplaren mit eingeklebten Fotos von 28 selbst fotografierten Paar Schuhen auf 14 Seiten. Heute umfasst der Otto-Katalog 1 400 Seiten. Seine namhaftesten Wettbewerber, der Honorarkonsul Gustav Schickedanz hatte bereits 1927 seinen Textilversand aufgebaut und Olympia-Dressurreiter Josef Neckermann hatte 1938 mit dem Kauf des Berliner Textilversenders Wäschemanufaktur Carl Joel den Grundstein für sein Unternehmen gelegt.

Was den Unternehmensgründer Werner Otto von vielen anderen Unternehmenspatriarchen unterscheidet, war sein Mut, Entscheidungen kritisch zu hinterfragen und Fehler zu korrigieren. Eigenschaften, die den wirklich erfolgreichen Unternehmer auszeichnen. So auch, als Otto, Neckermann und Quelle neben dem Versand in den 1960er-Jahren eine Warenhauskette aufbauten.

Die Idee schien bestechend: Über die Häuser konnten sie schneller als über den schwerfälligen Versand Restposten verkaufen. Doch die Standorte waren zu schlecht und zu teuer eingekauft, da die Versender zu spät kamen und die Top-Lagen von den älteren Betreibern Karstadt und Kaufhof besetzt waren. Zudem reichte es nicht, nur Versandware auszuhängen. Der Kunde verlangt in der Saison wechselnde Sortimente.

Nur der Otto Versand erkannte das Problem sehr schnell und verkaufte seine Filialen 1973 an Helmut Horten, dem damals der kleinste der 4 Warenhauskonzerne gehörte. Bei Neckermann beschleunigte die Fehlinvestition das Abgleiten in die Verlustzone. Quelle schleppte sie noch Jahre mit, verbuchte in den 1980er-Jahren Verluste und verkaufte sie Anfang der 1990er-Jahre an Hertie.

Zwischen „Festhalten und Loslassen“ die richtige Balance zu finden, ist bei Familienunternehmen vor allem beim Generationswechsel ein ganz zentrales Thema, wie etwa das Beispiel von Max Grundig, der nicht loslassen konnte, belegt. Doch Werner Otto, der sich im Nachkriegsdeutschland als innovativer und zielstrebiger Unternehmer profilierte – 1963 führte er als erster die telefonische Bestellung ein – schafft das, was nur wenige eingefleischte Unternehmensgründer können: Er ist in der Lage, sein Lebenswerk loszulassen.

Mit gerade einmal 57 Jahren steigt er 1966 aus und wechselt an die Spitze des Aufsichtsrats. Vor allem aber sucht der umtriebige Unternehmer eine neue Aufgabe – völlig unabhängig vom Otto Versand. So gründet er in den 1960er-Jahren die ECE Projektmanagement, die heute unter Ägide seines Sohnes Alexander Otto (Foto) zu den führenden europäischen Shopping-Center-Entwicklern und -Betreibern gehört. Zudem baute er 1973 die US-amerikanische Immobiliengruppe Paramount mit Hochhäusern in New York und Washington DC sowie die Sagitta Group mit Wohnanlagen und Industrie-Parks im Großraum Toronto auf. Zudem steckt er viel Engagement in soziale Projekte wie die „Werner Otto Stiftung“ für medizinische Forschungsförderung.

Für die Nachfolgeregelung im Versand findet Werner Otto die perfekte Lösung. Da sein ältestes Sohn Michael mit gerade einmal 23 Jahren noch nicht bereit war, die Konzernführung zu übernehmen, holt er für die Übergangszeit den gebürtigen Berliner Günter Nawrath, der zuvor
6 Jahre lang Finanzvorstand im Industrieunternehmen Rheinstahl/Henschel AG in Kassel war, nach Hamburg.

Nawrath bringt wichtige neue Impulse aus einer anderen Branche mit. Unter seiner Ägide macht der Otto Versand die entscheidenden Schritte zum „Versandhaus von Morgen“, wie „Die Welt“ dem Manager 1984 zum 60. Geburtstag bescheinigt. „Den Übergang in der Führung mit einem familienfremden Manager zu gestalten, erhöht den Gestaltungsspielraum aller Beteiligten“, kommentierte Vorstandschef Michael Otto die Lösung in einem Interview einmal rückblickend. 1971, mit 28 Jahren wird der promovierte Volkswirt Vorstand und profitiert von Nawraths Führungsstil, der auf breite Eigenverantwortung setzt und eine gute Übergangsphase für den künftigen Chef bietet. 1981 übernimmt er den Chefsessel des Versenders. Auch Michael Otto, unter dessen Ägide die Otto Group konsequent ihre Internationalisierung fortsetzte und zum größten Versender der Welt wird, holte nach seinem Wechsel an die Spitze des Aufsichtsrats mit Hans-Otto Schrader  zunächst einen Familienfremden, bis sein Sohn die Aufgabe übernehmen wird.

Wesentlich für den Erfolg der Unternehmerfamilie Otto war auch, wie die „Wirtschaftswoche“ einmal schrieb, dass selbst intimsten Otto-Kennern kein Fall bekannt war, bei dem Vater Werner und Sohn Michael über Nawraths Kopf hinweg taktiert hätten. Auch beim Übergang der ECE-Führung auf Alexander Otto übernahm mit Heinrich Kraft lange Jahre ein Familienfremder die Unternehmensleitung.

Dabei hat Werner Otto immer eine gute Hand bewiesen. „Wir haben von vorneherein nicht nur auf Familienmitglieder gesetzt, sondern immer gutes Management von außen geholt“, beantwortete Michael Otto einmal die Frage, warum das Hamburger Unternehmen erfolgreicher ist als so manches andere Familienunternehmen.

Wie in einer Parallel-Welt verläuft dagegen die Nachfolgeregelung bei den Versand-Wettbewerbern Schickedanz und Neckermann. Als Gustav Schickedanz 1977 stirbt, hat er seine Nachfolge nicht geregelt. Die beiden Töchter Louise aus erster Ehe und Madeleine aus zweiter Ehe sowie später seine Enkelin überlassen die Führung der Schickedanz-Holding ihren Ehemännern. Dabei wählt die Familie einen fatalen
Weg. Die operative Verantwortung des Quelle-Versands übernehmen sie nicht,
mischen sich aber ständig in die Belange des Versenders ein. Die Folge: Die
Quelle-Chefs gaben sich die Türklinke in die Hand.

Die typische Problematik des Patriarchen, der nicht loslassen kann, fand sich bei Neckermann. Josef Neckermann zog sich zwar aus dem Tagesgeschäft zurück, mischte sich aber immer wieder ins Tagesgeschäft ein und ließ seinen Söhnen keinen Spielraum. In den 1970er-Jahren wird Neckermann von Karstadt übernommen und so vor dem Bankrott bewahrt. Inzwischen wurde Neckermann an einen US-Investor verkauft.

Indem Werner Otto, der aus drei Ehen 5 Kinder hat, die Führung im Otto Versand nur einem Sohn überlassen hat und seinen übrigen Kindern andere Teile seines umfangreichen Vermögens vererbte, schuf er eine gute Voraussetzung dafür, familiäre Streitigkeiten vom Unternehmen fern zu halten, urteilen Experten. Sogar in den fernen USA ernten die Neu-Hanseaten Bewunderung: Die Otto-Familie ist für das Wall Street Journal „eine der inspirativsten Erfolgsgeschichten des modernen Deutschlands“.