Stuttgart 21: Demokratischer kann ein Projekt nicht sein

Frank Peter Unterreiner, Herausgeber „Immobilienbrief Stuttgart“

Was ist denn nur in Stuttgart los? Ein knabbernder Abrissbagger, protestierende Demonstranten, blockierte Kreuzungen und jetzt auch noch wankelmütige Landespolitiker beherrschen seit Wochen die Titelseiten der Tageszeitungen und politischen Magazine sowie die Abendnachrichten. Die Menschen im Südwesten sollen mit dem größten Infrastrukturprojekt Europas und einem der größten Städtebauprojekte beglückt werden, und was machen sie: sie klammern sich im Wortsinne an die Seitenflügel eines Bahnhofs, von dem viele bis vor kurzem gar nicht wussten, dass es sie überhaupt gibt.

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Stuttgart 21 ist als Städtebauprojekt das, was die Hafencity für Hamburg ist. Mitten im engen Kessel der Landeshauptstadt werden über 100 Hektar Fläche frei. Güter- und Wartungsbahnhof, Gleisvorfeld, die Schienenstränge durch die Parkanlagen und ein dort verlaufender meterhoher Damm verschwinden. Die Züge unterfahren Stuttgart künftig in einem Tunnel und kommen erst am Flughafen auf der Filderebene wieder ans Tageslicht. Der Hauptbahnhof wird tiefergelegt (dafür müssen dessen Seitenflügel weichen, der Rest bleibt).

Ökologisches Viertel mit kurzen Wegen zu Wohnen und Arbeiten

Von den über 100 Hektar hat die Stadt Stuttgart etwa 90 Hektar von der Bahn erworben, um die Stadtentwicklung steuern zu können. Auf 50 Hektar Nettobauland sollen Wohnungen für 12.000 Menschen und 20.000 Arbeitsplätze entstehen. Es soll ein ökologisches Viertel werden, mit kurzen Wegen, eingebunden in die Innenstadt und ohne Flächenverbrauch. Und der bestehende Park wird um 20 Hektar wachsen.

Das Verkehrsprojekt ist Teil der Schnellverbindung von Paris nach Bratislava. Doch auch der Nahverkehr profitiert. Die Fahrzeit vom Hauptbahnhof zur Filderebene verkürzt sich von heute 27 auf dann acht Minuten. Wer heute nach München möchte, benötigt mit dem ICE 139 Minuten, künftig werden es 102 sein. Ulm ist dann gar in 28 Minuten erreichbar. Wer heute von Stuttgart über Frankfurt in die weite Welt fliegt, steigt meist am Hauptbahnhof in den ICE. Hat er Lufthansa gebucht, hat der ICE-Wagen eine LH-Nummer. Wer über München fliegt, benutzt heute einen Zubringerflug, künftig ist das nicht mehr nötig. Von Stuttgart nach Paris wurden zahlreiche Flugverbindungen eingestellt, seit es den schnellen TGV gibt. Nach Wien und Budapest dürfte es dann ähnlich sein. Stuttgart 21 hat das Potenzial, jede Menge Verkehr auf die Schiene zu bringen.

Stuttgart 21 müsste eigentlich Jubel auslösen

Dass Stuttgart 21 kommt, das Verkehrs- wie das Städtebauprojekt, müsste lauten Jubel auslösen. Doch das Gegenteil – scheint? – der Fall zu sein. Die Demonstrationen beeindrucken zweifelsohne, doch ist wirklich die Mehrheit der Stuttgarter und Baden-Württemberger gegen das Jahrhundertprojekt? Das kann niemand genau sagen, sicher ist jedoch: Vor etwa 15 Jahren gab es einen breiten politischen Konsens – auch die Grünen stimmten im Grundsatz zu – dafür, der von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen wurde. Die Mehrheit von Gemeinderat, Regionalparlament, Landtag, Bundestag und Europaparlament haben dafür gestimmt. Jahrelang wurde diskutiert, es gab einen Planfeststellungsbeschluss. Demokratischer kann ein Projekt nicht verabschiedet werden.

Stuttgart 21 war dann jahrelang in der Schwebe, da es Unstimmigkeiten zwischen den Projektpartnern gegeben hatte. In dieser langen Zeit (2008 hätte der neue Hauptbahnhof eigentlich eingeweiht werden sollen) überließen die Befürworter den Gegnern das Feld, die ihre Zeit nutzten.

Lange genug gab es keine Stimme, die für Stuttgart 21 sprach. Auch heute noch ist Stuttgart 21 vor allem als Infrastrukturprojekt bekannt, viele Stuttgarter wissen nicht um die städtebaulichen Chancen. Die unglaublich hohen Baukosten wecken Ängste. Dem so genannten „kleinen Mann“ ist es schwer zu vermitteln, dass angesichts maroder Schulen und leerer öffentlicher Kassen jetzt Milliarden investiert werden sollen. Doch es muss sein, und manche Investitionen rechnen sich nur in Generationen. Wenn vor über 150 Jahren nicht die heutige Eisenbahnlinie durch das enge Neckartal gebaut worden wäre, hätte die industrielle Revolution nicht stattgefunden, Württemberg wäre weiterhin das Armenhaus Deutschlands und nicht das Mekka des Maschinen- und Automobilbaus.

Und dieser Mut ist heute wieder nötig. Stuttgart und Baden-Württemberg muss fit gemacht werden für die Herausforderungen des nächsten Jahrhunderts.