Hertie Görlitz: 100 Jahre altes Jugendstilhaus sucht seinen Platz in der Zukunft

Wer das Hertie-Warenhaus am Marienplatz, mitten im Herzen von Görlitz betritt, wird wahrscheinlich zum ersten Mal begreifen, warum die Flaggschiffe des Einzelhandels als Konsumtempel bezeichnet werden. Unter demimposanten Lichthof aus Buntglas findet sich „reinster Jugendstil so weit das Auge reicht“, wie die Europastadt Görlitz für ihr Baudenkmal wirbt. Das Bauwerk hat durchaus sakrales Flair.

Das zwischen 1912 und 1913 als Kaufhaus „Zum Strauß“ vom Privateigentümer Strauß gebaute Objekt (Foto) mit seinen emporen-artigen Verkaufsbereichen, hat als eines der wenigen Warenhäuser dieses Typs den 2. Weltkrieg weitgehend unbeschadet überstanden. Vorbild für Görlitz war das berühmte Berliner Wertheim am Leipziger Platz (erbaut und erweitert von 1896 – 1904), das als schönstes Kaufhaus Deutschlands galt, den 2. Weltkrieg aber nicht überdauert hat.

Nach dem Krieg und der Teilung Deutschlands wurde das Görlitzer Jugendstilkaufhaus 1950 zunächst Bestandteil der HO-Organisation, später der DDR-Warenhaus-Kette „Centrum“, die nach der deutschen Vereinigung – bis auf einige Ausnahmen wie das Haus am Alexanderplatz in Berlin – vom Essener Karstadt-Konzern übernommen wurde. Auch wenn das Berliner KaDeWe, der Münchener Oberpollinger und das Hamburger Alsterhaus als ertragsstarke Aushängeschilder des Konzerns galten, so wurde das Görlitzer Jugendstilhaus unter der alten Karstadt-Führung als architektonisches Kleinod geschätzt.

Das änderte sich 2004, nachdem der Karstadt-Quelle-Konzern unter Vorstandschef Wolfgang Urban in finanzielle Schieflage geraten war. Im Jahr 2005 sortierte der neue Vorstandschef Thomas Middelhoff alle kleineren Karstadt-Warenhäuser aus und verkaufte sie an den britischen Investor Dawnay, Day. Mit 9 000 qm Nutz- und 5 000 qm Verkaufsfläche zählte auch das Görlitzer Karstadt-Haus dazu – ungeachtet der überregionalen Bedeutung, die das gut erhaltene Jugendstilkaufhaus in der gesamten Region Oberlausitz/Niederschlesien, den angrenzenden Regionen in Polen und der Tschechischen Republik hatte. Nahezu jede touristische Stadtführung geht laut Lutz Thielemann, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Görlitz, in das Warenhaus: „Das bietet Umsatz-Chancen.“ Doch in einer Welt des „Financial Engineerings“ zählten 2005 solche Werte nicht mehr.

Um sich mit seiner Kette vom Karstadt-Konzern abzugrenzen, hatte Dawnay, Day auch die Namensrechte für „Hertie“ erworben. Denn nachdem Karstadt den ehemaligen Frankfurter Hertie-Konzern Ende der 1990er-Jahre vollständig integriert hatte, brauchte er den alt eingeführten Namen nicht mehr. So wurde aus dem alten Kaufhaus „Zum Strauß“ 2005 ein Hertie-Warenhaus. Und geriet mit dem neuen Hertie-Konzern im Sommer 2008 in die Insolvenz. Seit sich der Dawnay-Day-Manager Chris Hancock allen Bestrebungen von Insolvenzverwalter Biner Bähr wiedersetzt hat, Hertie an einen operativen Investor zwecks Weiterführung zu veräußern, muss das Unternehmen mit Beschluss der Gläubiger-Versammlung vom 20. Mai liquidiert werden. Und so steht auch das alte Görlitzer Jugendstil-Warenhaus zum Verkauf. Positiv fällt ins Gewicht, dass Görlitz zu den 54 Filialen gehört, für die Bähr eine Zukunft gesehen hat und die er weiter führen wollte.

Der Verkauf und die Weiternutzung des Warenhauses sind seither für die Verantwortlichen in der Stadt, der Region und in der Landeshauptstadt zur Chefsache geworden. Sie wollen – im Rahmen des rechtlich zulässigen – „jede wirtschaftlich tragfähige Lösung zur Erhaltung des Standortes in Görlitz unterstützen“, teilt die Wirtschaftsförderung Sachsen mit. Denn, die Furcht vor einem leer stehenden Kaufhaus – zumal einem solchen Magnetbetrieb für Görlitz – ist groß.

Mit seiner Lage am Marienplatz steht das Haus an der Nahstelle zwischen dem Gründerzeit-Viertel und der Top-Einkaufslage Berliner Straße. Die Europastadt Görlitz, die aus 2 Teilen besteht, dem deutschen Teil und dem polnischen Zgorzelec auf der polnischen Seite der Oder, liegt mit einer Kaufkraftkennziffer von 86,9 (Kemper’s Jones Lang LaSalle) zwar unter dem Bundesdurchschnitt, wie die meisten ostdeutschen Städte, doch belegt die Zentralitätskennziffer von 135,25 (Lührmann), wie stark der Zustrom aus dem Umland ist. Der Einzelhandelsumsatz pro Kopf liegt bei 5 982 Euro (2008). Zudem wird die Kaufkraft, die aus dem polnischen Teil der Stadt zufließt, nirgendwo erfasst, wie Herbert Lehner, Einzelhandelsspezialist von Brockhoff & Partner bestätigt: „Viele kommen wegen des Markenangebots“. Laut Thielemann stammen 20% der Kaufkraft, die an einem Samstagmorgen ausgegeben werden, aus dem polnischen Teil. Beide Städte kommen auf fast 100 000 Einwohner.

Neben den beiden Arbeitgebern Bombardier und Siemens sowie den mittelständischen Betrieben, die sich in deren Kielwasser in Görlitz angesiedelt haben, gründet Thielemann die Zukunft der Stadt auf den Tourismus und die Nähe zu Polen. Denn da Görlitz im Krieg nicht zerstört wurde, ist die Stadt reich an architektonischen Schätzen und begehrtes Tourismus-Ziel. So ist es ihr zuletzt gelungen, die Zahl der Übernachtungen um 11% zu steigern. „Das ist in diesen Zeiten keine Selbstverständlichkeit“, resümiert Thielemann. Seit 2 Jahren verzeichne die Stadt überdurchschnittliche Wachstumsraten in diesem Bereich.

Weiteres Wachstumspotenzial ergibt sich aus der Tatsache, dass das Stadtzentrum von Görlitz, das nach dem 2. Weltkrieg durch die Festlegung der Oder-Neiße-Linie als Ostgrenze geteilt wurde, im Westteil liegt. Der Ostteil, Zgorzelec, hat kein eigenständiges Stadtzentrum. „Deshalb profitiert die Stadt immer stärker von der Integration der Polen, die hier einkaufen, wohnen und ab 2011 auch arbeiten dürfen“ blickt Thielemann bereits zwei Jahre weiter, wenn auch die „Freizügigkeit der Arbeit“ für Polen in der EU umgesetzt wird. Und auch der Ausbau der A4 über Dresden, Görlitz, Breslau und Krakau hinein in die Ukraine bringt aus seiner Sicht Vorteile.

Im Zuge der Ansiedlung neuer Betriebe hofft Thielemann auch wieder mehr junge Menschen in die Stadt zu holen, die Görlitz Anfang der 1990er-Jahre verloren hatte, als nach der Vereinigung viele Unternehmen geschlossen wurden. Dass es derzeit aber keine leichte Aufgabe ist, für das denkmalgeschützte Jugendstil-Warenhaus einen neuen Eigentümer bzw. Nutzer zu finden, darüber macht sich Thielemann keine Illusionen. Laut Lehner ist das Überangebot an Großflächen, das im Zuge der Insolvenz von Hertie, Wehmeyer und SinnLeffers besteht, auf dem Markt schon spürbar.

Gleichwohl verhandeln die Verantwortlichen in Görlitz mit zahlreichen Einzelhandelsunternehmen, dem Immobilienvermarkter BNP Parisbas Real Estate (Atisreal), Investoren und Entwicklern. Gesucht wird laut Thielemann ein Konzept, das dem Anspruch des Hauses ebenbürtig ist. Bei der notwendigen Modernisierung der Verkaufsfläche ist die Stadt offen für einen gesunden Weg aus Modernisierung und Bewahrung.

Wird die Top-Lage Berliner Straße bislang noch vielfach von preisgünstigeren Handelskonzepten geprägt, so hofft die Stadt künftig verstärkt auf Anbieter des mittleren und gehoberen Angebots. Deshalb ist Thielemann stolz, dass es im März gelungen ist, den Modeanbieter Gerry Weber in die Stadt zu holen. Auch Markennamen wie H&M, New Yorker oder C&A sind schon in der Stadt zu finden.